Der Kläger leidet unter einer zunehmenden Lähmung beider Beine. Seit 5 Jahren ist er auf einen Aktivrollstuhl angewiesen. Zur Verbesserung seiner gesundheitlichen Situation kaufte er zunächst ein handgetriebenes Rollstuhlbike (auch Rollstuhl-Zuggerät genannt), das er an seinen Rollstuhl ankoppeln und mit dem er mittels einer Handkurbel ohne fortwährende Hilfe Dritter mobil sein konnte. Da seine körperlichen Kräfte weiter abnahmen und er das manuelle Handbike nicht länger nutzen konnte, beantragte er bei seiner Krankenkasse ein Rollstuhlbike mit Elektromotorunterstützung. Die Kosten hierfür hätten rund. 5.500,- EUR betragen.

Obwohl das Elektrobike ärztlich verordnet wurde und der Kläger mit seinem Aktivrollstuhl nur kurze Strecken bewältigen konnte, lehnte die Krankenkasse den Hilfsmittelantrag ab. Hiergegen legte der Kläger zunächst selbst Widerspruch ein. Die Krankenkasse holte ein Gutachten beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MdK) ein und wies auf dessen Grundlage den Widerspruch zurück. Immerhin bot die Krankenkasse ihm nun einen Elektrorollstuhl an, den er jedoch wegen des hohen Gewichts - anders als das viel leichtere Elektro-Rollstuhlbike - alleine nicht handhaben konnte und damit weiterhin auf Hilfe Dritter angewiesen wäre.

Der Kläger suchte rechtliche Unterstützung bei der DGB Rechtsschutz GmbH, Büro Pirmasens, die seinen Anspruch auf Hilfsmittelversorgung nach § 33 SGB V letztlich vor dem Landessozialgericht Saarbrücken durchsetzte.

Rechtliche Voraussetzungen der Hilfsmittelversorgung


Nach § 33 SGB V gibt Versicherten einen Rechtsanspruch auf Hilfsmittel,

  • die nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens oder nach § 34 Abs. 4 SGB V aus der Versorgung der gesetzlichen Krankenkasse ausgeschlossen sind und im Einzelfall erforderlich sind um
  • den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen.

 

Schwierigkeiten insbesondere beim Hilfsmittel „Handbike“:


Das hört sich zunächst vielversprechend an, allerdings macht die Rechtsprechung erhebliche Unterschiede bei der Art der gewünschten Hilfsmittel und des Zieles, für das es verordnet und eingesetzt werden soll.

In Einzelfällen hat das Bundessozialgericht Ansprüchen auf Versorgung mit einem Handbike stattgegeben, überwiegend bei einem nachgewiesenen therapeutischen Effekt durch dessen Nutzung. Schwieriger durchzusetzen sind die Fälle, in denen die Krankenkasse bereits im Therapiebereich umfangreich geleistet hat, z.B. durch die Verordnung mit einem Elektrorollstuhl, einem Bewegungstrainer oder durch regelmäßige Teilnahme an Krankengymnastiksitzungen. Hier bleibt nur noch der Weg durch die Versorgung mit dem Handbike die Gehbehinderung auszugleichen.

Das Bundessozialgericht unterscheidet hierbei in ständiger Rechtsprechung, ob ein Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst begehrt (unmittelbarer Behinderungsausgleich) wird oder ob das Hilfsmittel den Zweck hat, die direkten oder indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen (mittelbarer Behinderungsausgleich).

Bei dem unmittelbaren Behinderungsausgleich muss die Krankenkasse die Hilfsmittelversorgung umfassend leisten. Maßstab ist hier, die Behinderung möglichst weitgehend auszugleichen. Es müssen auch technisch fortschrittliche und neuartige Hilfsmittel gewährt werden. Behinderte Menschen müssen sich hier nicht mit dem bisher üblichen Versorgungsstand abfinden, wenn es neuere und bessere Ausgleichshilfen gibt.

Mittelbarer Behinderungsausgleich schwer durchzusetzen


Der Ausgleich von Behinderungen bei der Hilfsmittelversorgung ist schwerer durchzusetzen, wenn es um den mittelbaren Behinderungsausgleich geht. Hier verpflichtet das Bundessozialgericht die gesetzlichen Krankenkassen nur für den „Basiszugleich“ einzustehen. Wo „Basisausgleich“ draufsteht ist auch tatsächlich „nur“ Basisausgleich drin. Die Krankenkassen müssen nach der Rechtsprechung gerade nicht einen Ausgleich „im Sinne eines vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen“ schaffen. Die Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung erschöpft sich in der medizinischen Rehabilitation, nicht der beruflichen oder sozialen Gleichstellung behinderter Menschen.

Wer wie der in seiner Mobilität eingeschränkte Kläger einen mittelbaren Behinderungs-ausgleich anstrebt, kann nach der aktuellen Rechtsprechung seine Krankenkasse nur in Anspruch nehmen, wenn das Hilfsmittel die Auswirkung der Behinderung im gesamten Leben beseitigt oder mildert. Das Hilfsmittel muss damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betreffen.

Beim Grundbedürfnis auf Mobilität gibt die Rechtsprechung damit auch noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts den behinderten Menschen nur das Recht den Nahbereich um die Wohnung zu erschließen. Maßstab ist hierbei der Bewegungsradius, den auch ein nichtbehinderter Mensch üblicherweise noch zu Fuß erreicht. Das Bundessozialgericht meint damit die Entfernung, die „einem kurzen Spaziergang an der frischen Luft“ entspricht oder um Alltagsgeschäfte in Wohnungsnähe zu erledigen.


Es ist für Rollstuhlfahrer*innen noch ein weiter Weg „zu rollen“


Die Krankenkassen und die Rechtsprechung sehen in einem Rollstuhlzuggerät eine Art Fahrrad, mit dem Behinderte eine dem Radfahren vergleichbare Mobilität erlangen und sich damit nicht nur den ihnen zugestandenen Nahbereich um ihre Wohnung erschließen können. Das Bild von Rollstuhlfahrer*innen, die mit ihren Handbikes gemeinsam mit Nichtbehinderten ausgedehnte Touren in die fernere Umgebung unternehmen und dabei den Radfahrern gleich pfeilschnell durch Wald und Flur rasen ist in den Köpfen der Krankenkassen und Gerichte immer noch fest verankert.

Die Realität sieht leider anders aus. Das Handbike ist kein Freizeit- oder Sportgerät, wie dies regelmäßig in den ablehnenden Ausgangsbescheiden der Krankenkassen zu lesen ist. Kein Nichtbehinderter kauft sich Rollstuhl und Handbike um damit Freizeitspaß zu erleben. Es ist ein intelligentes medizinisches Hilfsmittel, mit dem Rollstuhlfahrer*innen häufig erstmals eine ihnen bislang versagte autonome Mobilität gewinnen. Die besondere Qualität liegt damit nicht in dem erweiterten Aktionsradius im Vergleich zum Aktivrollstuhl, sondern vorrangig in dem Autonomiegewinn. Sie sind mit einem Handbike häufig erstmals ohne Hilfe Dritter auch im Nahbereich mobil.

Es ist dem Landessozialgericht hoch anzurechnen im entschiedenen Fall darauf abgestellt  zu haben, dass eine Leistungspflicht der Krankenkasse dann bestehen kann, wenn wegen der Besonderheiten des Einzelfalles ohne Nutzung des Handbikes der Nahbereich nicht mehr ausreichend erschlossen werden kann. In nahezu jedem Verfahren eines Wunsches auf Handbike-Versorgung gibt es solche Besonderheiten. Dies kann beispielsweise eine insgesamt reduzierte körperliche Kraft der Behinderten sein oder wenn der Nahbereich aus anderen Gründen nicht zumutbar erschlossen werden kann, z.B. weil Schmerzen bei er Nutzung des Aktivrollstuhls auftreten. Allerdings muss der Anspruch aus rein medizinischen Gründen gegeben sein.

Entscheidend ist der Gewinn an autonomer Mobilität


Rollstuhlfahrer*innen müssen sich nicht auf fremde Hilfe verweisen lassen, um überhaupt mobil zu sein. Dies ist bei einem Elektrorollstuhl fast immer der Fall ist. Der klassische Elektrorollstuhl ist schwer und unhandlich, Behinderte können ihn häufig nur zum reinen Fahren nutzen. Die Bereitstellung oder die Durchführung selbst kleiner Rüstarbeiten gelingt ihnen oft nicht ohne fremde Hilfe. Wer sich im Nachbereich nur unter Schmerzen oder Inanspruchnahme fremder Hilfe bewegen kann oder für diese Wege mehr Zeit benötigt als ein gehender Nichtbehinderter, kann einen Hilfsmittelanspruch auf ein Handbike haben. Die Entscheidung des Landessozialgerichts stärkt damit auch das Recht der Rollstuhlfahrer*innen auf autonome Selbstbestimmung im Bereich der Mobilität.

Ein Umdenken ist jedoch beim mittelbaren Behinderungsausgleich und insbesondere beim Mobilitätsbegriff notwendig. Die Leistungspflicht bei Hilfsmitteln durch die Krankenkassen nur als Basisausgleich zu verstehen, ist schon angesichts des Verbots der Benachteiligung Behinderter (§ 33c SGB I) problematisch. Der Gesetzgeber und die Gerichte müssen letztlich zu der gesellschaftlichen Frage Stellung nehmen, wie unsere moderne Mobilitätsgesellschaft mit denjenigen umgeht, die nicht frei über die Länge und Dauer ihre Wege außerhalb der Wohnung entscheiden können. Auch wenn in Deutschland die Urbanisierung stetig zunimmt, ist die den gerichtlichen Entscheidungen zugrunde liegende Annahme nicht zutreffend, man könne im Nahbereich der Wohnung die Alltagsgeschäfte erledigen. Ist der Lebensmittelhändler aus der Stadtmitte weggezogen gehen Nichtbehinderte einfach ein Stückchen weiter, Rollstuhlfahrer*innen hingegen stoßen schnell an die Grenzen ihrer körperlichen Möglichkeiten.

Rollstuhlfahrer*innen, die noch arbeiten, sollten auch an die Einbindung anderer Versicherungsträger wie der Rentenversicherung, der Landesämter nach dem SGB IX und eventuell der Berufsgenossenschaften denken. Zwar muss ein Versicherungsträger, der sich für das an ihn gerichtete Begehren als unzuständig ansieht, von sich aus tätig werden und den Antrag an den zuständigen Sozialversicherungsträger weiterleiten, in der Praxis geschieht dies jedoch selten.

Die weitere Lehre auch aus diesen Verfahren ist, dass man als behinderter Mensch immer noch einen langen Atem braucht um gesetzliche Rechte durchzusetzen.

 

Das vollständige Urteil des LSG Saarbrücken können Sie hier nachlesen.