Wegeunfall eines Schülers -- BSG verpflichtet Unfallversicherung zur Leistung
Wegeunfall eines Schülers -- BSG verpflichtet Unfallversicherung zur Leistung


Gemeinsam mit drei Mitschülern sollte der Schüler im Musikunterricht einen Videoclip erstellen. 

Da der Clip im Unterricht nicht fertig gestellt wurde, trafen sich die Schüler zu den Dreharbeiten mit Billigung der Musiklehrerin nach Unterrichtsschluss privat bei einem Mitschüler. Bei den Dreharbeiten kam es in der Gruppe zum Streit.

Hierbei wurde der klagende Schüler auf dem Heimweg von einem der Klassenkameraden erheblich verletzt. Die beklagte Unfallkasse lehnte es ab, Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren. Sie begründete dies damit, dass es sich bei den Dreharbeiten um Hausaufgaben gehandelt habe, die in den Verantwortungsbereich der Eltern fielen.

Eine von Pädagogen initiierte Gruppenarbeit außerhalb des Schulgeländes ist nicht als "Hausarbeit" anzusehen

Wie schon die Vorinstanz, widersprach das Bundessozialgericht dieser Auffassung. Es hielt zwar an seiner Rechtsprechung fest, nach der kein Versicherungsschutz bestehe, wenn Schüler ihre Hausaufgaben im Selbststudium zu Hause erledigen. 

Keine "Hausaufgabe" liege jedoch vor, wenn Lehrkräfte Schülergruppen aus pädagogischen oder organisatorischen Gründen zusammenstellten und mit einer Aufgabe betrauten, die die Gruppe außerhalb der Schule selbstorganisiert lösen solle. 

In einem solchen Fall setze sich der Schulbesuch in der Gruppe fort, in der neben fachlichen zugleich auch soziale und affektive Kompetenzen untereinander vermittelt und eingeübt werden sollen. 

Unfall des Schülers von Wegeunfallversicherung erfasst

In seiner Entscheidung vom 23.01.2018 vertrat das Gericht die Auffassung, dass während schulisch veranlasster Gruppenarbeiten für jedes Gruppenmitglied "Schule" und damit ein "Schulbesuch" ausnahmsweise an dem Ort und zu dem Zeitpunkt stattfindet, an dem sich die Gruppe zur Durchführung der Projektarbeit treffe. 

Bei solchen Gruppenarbeiten würden Schüler zur Verwirklichung staatlicher Bildungs- und Erziehungsziele füreinander "in Dienst genommen", was ihren Unfallversicherungsschutz bei gleichzeitiger Haftungsfreistellung der Mitschüler erfordere und rechtfertige. Umso mehr gelte dies, da das Unfallgeschehen durch einen jugendtypischen Gruppenprozess ausgelöst worden sei, dessen Ursache in der Zusammenstellung der Gruppe durch die Lehrkraft gelegen habe.

Als Teil des "Filmteams", das die Musiklehrerin im Unterricht aus Schülern zusammengestellt hatte, habe der klagende Schüler als "Schauspieler" am Drehort für die Erstellung des Videoclips versicherte Tätigkeiten im Rahmen eines projektbezogenen Schulbesuchs verrichtet. Damit sei der sich anschließende Heimweg ebenfalls versichert, und der Schüler habe einen von der Wegeunfallversicherung erfassten Schülerunfall erlitten.

Hier finden Sie die Pressemitteilung des Bundessozialgerichts vom 23.01.2018

Das sagen wir dazu:

Die Entscheidung des Bundessozialgerichts ist begrüßenswert. Aus der Pressemitteilung vom 23.01.2018 ergibt sich in nüchterner Darstellung die rechtliche Bewertung des Falles. Schaut man jedoch „hinter die Kulissen“ und befasst sich mit der Terminvorschau, so wird die Tragik des Falles deutlich. 

Einmal mehr gibt dieser Fall zu erkennen, dass gesetzliche Unfallkassen immer wieder mit allen denkbaren Mitteln/Begründungen versuchen Unfallopfer nicht die Leistungen zukommen zu lassen, die diesen offenkundig zustehen.

Der Kläger war Schüler einer Realschule. Im Rahmen des Musikunterrichts wurde die Thematik "Musik und Werbung" bzw. "Wirkung von Musik" bearbeitet. Zunächst wurde im Unterricht die theoretische Grundlage erarbeitet, danach sollten in Kleingruppen Werbeclips hergestellt werden. 

Die Aufgabe bestand darin, einen Werbeclip zu einem bestimmten Produkt zu filmen, zu schneiden, zu bearbeiten und mit passender Musik zu unterlegen. Zunächst war vorgegeben, dass der Werbeclip während des Musikunterrichts auf dem Schulgelände gedreht werden sollte. Auf Bitten der Schüler erhielten diese von der Musiklehrerin die Möglichkeit, den Werbeclip auch außerhalb des Schulunterrichts zuhause zu drehen. 

Vorgegeben war der Abgabetermin, nicht aber Drehzeit und Drehort. Von dieser Möglichkeit machten die Schüler Gebrauch. 

Kläger stürzt auf dem Weg vom Drehort zur elterlichen Wohnung.

Am 07.03.2013 traf sich der Kläger nachmittags mit drei Mitschülern zuhause bei einem Mitschüler, um den Werbeclip zu drehen, in dem er mehrere Szenen spielen sollte. Er war der Annahme, er werde gefilmt, während er mit einem Getränk aus der Haustür herauskam. Tatsächlich war der Akku des Aufnahmegeräts leer. Als er das merkte, verließ er wütend den Drehort, um nach Hause zu gehen. Einer der Mitschüler verfolgte ihn und rempelte ihn mit dem Ellenbogen an. Hierbei stolperte der Kläger, fiel auf den Rücken und schlug mit dem Kopf auf. 

Folgen des Unfalls: Koma, rollstuhlpflichtig, Wechsel von Realschule zur Internatsschule für körperbehinderte Menschen 

Nach zwei Operationen wurde der Kläger ins künstliche Koma versetzt. Seit dem Ereignis ist der Kläger an einen Rollstuhl gebunden und wird mittlerweile in einer Internats-Schule für körperbehinderte Menschen beschult. 

Die Beklagte lehnte die Anerkennung des Ereignisses als Versicherungsfall der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Begründung ab, bei der Erledigung von Hausaufgaben handele es sich nicht um eine versicherte Tätigkeit, denn diese sei unmissverständlich aus dem organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule herausgenommen und uneingeschränkt dem privaten Bereich zugewiesen. 

Rechtliche Grundlagen

Auszüge aus § 2 und § 8 Sozialgesetzbuch (SGB) VII

§ 2 Abs. 1 Nr. 8 Buchst b SGB VII:

(1) Kraft Gesetztes sind versichert (…) 8. b) Schüler während des Besuchs von allgemein- oder berufsbildenden Schulen und während der Teilnahme an unmittelbar vor oder nach dem Unterricht von der Schule oder im Zusammenwirken mit ihr durchgeführten Betreuungsmaßnahmen, (…)


§ 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII:

(2) Versicherte Tätigkeiten sind auch 1. das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit, (…)