9. Mai 2021: Sophie Scholl wird 100
Im letzten Jahr, am 28. Februar 2020, starb Elisabeth Hartnagel im Alter von 100 Jahren und einem Tag. Da war Ihre jüngere Schwester Sophie bereits fast auf den Tag genau 77 Jahre tot. Sie ist nicht an einer Krankheit gestorben und auch nicht durch einen Unfall. Sie fand ihren Tod im Alter von nur 21 Jahren durch Mord. Verübt von einer verbrecherischen Justiz in einem Land, das Verbrecher regierten und in dem Menschen lebten wie der eifrige Hörsaaldiener Jakob Schmid.
Elisabeth und Sophie waren wie ihre Geschwister Inge und Hans nicht gleich zu Beginn der Nazi-Herrschaft im Widerstand. Im Gegenteil: auch die gutbürgerliche Familie Scholl ließ sich zunächst vom Nationalsozialismus begeistern. Sophie trat 1934 dem Bund Deutscher Mädel (BDM) bei. Sie engagierte sich für ihre Jungmädel-Gruppe und wurde sogar Scharführerin.
Schon 1937 nahmen die Nazis Sophie Scholl wegen „bündischer Umtriebe“ kurzzeitig fest
Fasziniert waren die Geschwister vor allem vom Gemeinschaftsideal, das die Nazis propagierten. Allerdings entdeckten die Scholl-Geschwister nach und nach die Widersprüche zwischen der Nazi-Propaganda und ihrer eigenen bürgerlich-liberalen Grundhaltung. 1937 wurden sie wegen „bündischer Umtriebe“ kurzzeitig festgenommen. Sophie verlor ihre Führungsposition im BDM.
Im selben Jahr lernte sie auch ihren späteren Verlobten Fritz Hartnagel kennen, einen Offiziersanwärter. Ihm schreibt sie zu Beginn des zweiten Weltkrieges: „Ich kann es nicht begreifen, dass nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen. Ich kann es nie begreifen und ich finde es entsetzlich."
Vollends vom Nationalsozialismus wandte sich Sophie Scholl dann während ihrer Zeit beim Reichsarbeitsdienst ab. Sie wandte sich dem Christentum zu und las damals die Schriften von katholischen Kirchenvätern wie Augustinus, was ihr ziemlich viel Spott ihre Kolleginnen einbrachte. Immerhin förderte ihr Glaube eine kritische Haltung zur Nazi-Herrschaft und zum Krieg. „Ich mag gar nicht dran denken, aber es gibt ja bald nichts anderes mehr als Politik, und solange sie so verworren ist und böse, ist es feige, sich von ihr abzuwenden.", schrieb sie 1940 an Fritz Hartnagel.
Mit großem Interesse verfolgte der Freundeskreis die Vorlesungen des Philosophieprofessors Kurt Huber
Seit Mai 1942 studierte Sophie Scholl in München Biologie und Philosophie. Sie schloss sich dem Freundeskreis ihres Bruders Hans an, der in München Medizin studierte. Hierzu gehörten u.a. die Studenten Willi Graf, Alexander Schmorell und Christoph Probst. Den Kreis einte das Interesse an Kunst und Musik und vor allem die Abneigung gegen die Nazi-Diktatur. Die Gruppe verteilte seit 1943 Flugblätter, in denen sie die Verbrechen des Regimes aufzeigten und zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus aufriefen.
Mit großem Interesse verfolgte der Freundeskreis die Vorlesungen des Philosophieprofessors Kurt Huber und diskutierte philosophische und religiöse Fragen, etwa inwiefern Christen als politisch denkende und handelnde Menschen gefordert sind. Zwischen Kurt Huber, Hans Scholl und Alexander Schmorell gab es seit 1942 auch persönliche Kontakte über private Zusammenkünfte von Münchner Regimegegnern.
Die ersten vier Flugblätter verfasste die Gruppe wahrscheinlich noch ohne Beteiligung von Sophie. Diese trugen die Überschrift „Flugblätter der Weißen Rose“. Hans war anfangs auch dagegen, dass sich seine Schwester an Aktionen beteiligte. Sie hat aber hartnäckig darauf bestanden, mitzumachen und war dann am fünften und sechsten Flugblatt beteiligt.
Imperialismus, Militarismus und preußischer Zentralismus sollen abgelöst werden durch eine großzügige Zusammenarbeit der europäischen Völker
Das fünfte Flugblatt mit der Überschrift „Flugblätter der Widerstandsbewegung in Deutschland. Aufruf an alle Deutsche!“ verteilte die Gruppe im Januar 1943 mit Hilfe von Sympathisanten in ganz Süddeutschland und Österreich. Sie riefen dazu auf, sich vom „nationalsozialistischen Untermenschentum“, Imperialismus und preußischen Militarismus für alle Zeit zu trennen und forderten ein geeintes Europa: „Freiheit der Rede, Freiheit des Bekenntnisses, Schutz des einzelnen Bürgers vor der Willkür verbrecherischer Gewaltstaaten".
In diesen Menschenrechten sah die Weiße Rose die Grundlagen eines neuen Europa. Imperialismus, Militarismus und preußischer Zentralismus sollen abgelöst werden durch eine großzügige Zusammenarbeit der europäischen Völker und eine föderalistische Staatenordnung. Das Flugblatt verbreiteten andere Widerständler, etwa aus dem „Kreisauer Kreis“, in fast ganz Europa.
Nachdem die sechste Deutsche Armee in Stalingrad zugrunde gegangen war, steigerte die Gruppe ihre Aktivitäten. Spätestens jetzt waren sie auch in den Fokus der Gestapo („Geheime Staatspolizei“) geraten, die eine Sonderkommission zur Ermittlung der „staatsfeindliche Bestrebungen“ in München einrichtete, für die sie die Flugblattaktionen hielten.
Eine Schrift gegen eine doktrinäre weltanschauliche Schulung im nationalsozialistischen Bildungssystem, das jedes eigene Denken erstickt
In der Zwischenzeit hatten sich immer mehr Sympathisanten der Gruppe gefunden, die in vielen Städten des Deutschen Reiches ebenfalls Flugblätter verteilten. Im Februar 1943 hatte die „Weiße Rose“ schließlich ihr sechstes Flugblatt mit dem Titel „Kommilitoninnen! Kommilitonen!“ fertig gestellt, das sich vor allem an die Studierenden der Universität München richtete. An diesem Flugblatt hatte auch Professor Huber maßgeblich mitgearbeitet.
Die Gruppe wendet sich in dieser Schrift gegen die doktrinäre weltanschauliche Schulung im nationalsozialistischen Bildungssystem, das jedes eigene Denken erstickt: „Im Namen der ganzen deutschen Jugend fordern wir von dem Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut des Deutschen zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen hat."
Am 18. Februar 1943 verteilten Sophie und Hans Scholl im Foyer der Münchener Uni eine größere Menge der Flugblätter fünf und sechs. Zunächst bedienten sie nur das Erdgeschoss. Kurz vor dem Ausgang kamen sie auf die Idee, auch noch in den ersten beiden oberen Etagen mit Flugblättern auszustatten. In der zweiten Etage beging Sophie dann einen verhängnisvollen Fehler.
Die Geschwister hatten einen Stapel der Flugblätter auf eine Brüstung gelegt. Sophie Scholl schob diesen Stapel über den Rand der Brüstung, sodass sich die Flyer über das gesamte Foyer verteilten. Und jetzt kommt der emsige Hörsaaldiener Schmidt ins Spiel. Er nahm den Flugblattregen wahr, stellte die Geschwister und verständigte „pflichtbewusst“ die Gestapo.
Der faschistische Staat ermordet junge Menschen, weil sie ihre Meinung frei geäußert haben
Hans Scholl hatte bei seiner Festnahme noch den Entwurf eines Flugblattes dabei, den sein Freund Christoph Probst angefertigt hatte, weshalb die Gestapo auch diesen festnahm. Alle drei verurteilte der „Volksgerichtshof“ unter Roland Freisler vier Tage später zum Tode durch Köpfen. Das Urteil vollstreckte der Henker noch am selben Tag.
Obwohl Hans und Sophie Scholl alle „Schuld“ auf sich genommen hatten, gelang es der Gestapo, weitere Mitglieder der Gruppe zu ermitteln. Alexander Schmorell wurde zusammen mit Kurt Huber verurteilt. Beide kamen im April 1943 unter das Fallbeil. Willi Graf hielt die Gestapo lange in Haft, um aus ihm die Namen weiterer Mitglieder der „Weißen Rose“ herauszupressen. Im Oktober 1943 wurde schließlich auch er geköpft.
Alle anderen Mitglieder der „Weißen Rose“, die die Gestapo verhaftet hatte, bekamen hohe Haftstrafen bis zu 10 Jahre. Nur einen sprach man frei: Falk Harnack, jüngere Bruder des Juristen und Widerstandskämpfers Arvid Harnack, Mitglied einer Widerstandsgruppe, die die Gestapo „Rote Kapelle“ genannt hat.
Sophies ältere Schwester Elisabeth heiratet nach dem Krieg deren Verlobten
Sophies Verlobter, Fritz Hartnagel, war während des Krieges Offizier und nicht aktiv im Widerstand. Er hat ihn allerdings unterstützt, indem er ihn mit Nachrichten über den Kriegsverlauf und über Kriegsverbrechen hinter der Frontlinie versorgte. Auch Geld hat er für die „Weiße Rose“ gespendet. In ihre Aktivitäten war er aber wohl nicht eingeweiht.
Auch die Familie Scholl unterstützte Fritz Hartnagel finanziell, insbesondere nach der Ermordung von Hans und Sophie. Nach dem Krieg sprachen ihn die Alliierten -nach einem Widerspruchsverfahren- im Entnazifizierungsverfahren frei und bescheinigten ihm, dass er Widerstand geleistet hat, wo persönlicher Mut, Einsatz und Opferbereitschaft dazu gehörten. Wegen des Freispruchs konnte Hartnagel Jura studieren und brachte es bis zum Vorsitzenden Richter am Landgericht Stuttgart.
Im Oktober 1945 heiratete ihn Sophies ältere Schwester Elisabeth. Das Ehepaar trat 1952 in die SPD ein und engagierte sich in der Friedensbewegung. Aktiv traten sie als Gegner*innen der Wiederbewaffnung auf. Beide sind Mitbegründer*innen der Internationalen der Kriegsdienstgegner*innen e. V. (IDK), eine deutsche Sektion der War Resisters’ International (WRI). Das ist eine Organisation von Antimilitaristen, Pazifisten und Kriegsdienstverweigerern.
Als pensionierter Richter wurde Fritz Hartnagel in diesem Zusammenhang sogar zum „Straftäter“
Fritz Hartnagel war ab 1968 Vorsitzender der Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner*innen (DFG-VK), einer linken pazifistischen Organisation. Beide Eheleute waren seit den 70er Jahren in der Antiatomkraft-Bewegung aktiv. Zudem beteiligten sie sich am Widerstand gegen die Stationierung von Pershing-Raketen in den 80er Jahren. Als pensionierter Richter wurde Fritz Hartnagel in diesem Zusammenhang sogar zum „Straftäter“: wegen der Teilnahme an einer Blockade des US-Stützpunktes in Mutlangen verurteilte ihn das Amtsgericht Schwäbisch Gmünd zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen.
Widerstand gegen Ungerechtigkeiten und staatlichen Wahnsinn bestimmte also auch das Leben der Familie Scholl nach der Befreiung vom Faschismus. Es ist anzunehmen, dass auch Sophie und Hans in der Bundesrepublik Deutschland aktiv gegen Rüstungswahn und Ungerechtigkeit aufgetreten wären. Dazu hätte nicht annähernd so viel Mut gehört, wie zu den politischen Aktionen, wegen der sie die Nazis ermordet haben.
Und es wäre ein anderer Widerstand gewesen. Kein Widerstand gegen ein verbrecherisches Regime oder eine unmenschliche Diktatur, sondern die Wahrnehmung bürgerlicher Rechte in einem föderalen und demokratischen Deutschland und einer geeinten Europäischen Union. Ganz so, wie es sich die „Weiße Rose“ im fünften Flugblatt gewünscht hatte.
Sophie wäre am 9. Mai 2021 100 Jahre alt geworden. Wenn sie also das Alter ihrer Schwester Elisabeth erreicht hätte, hätte sie noch viele Jahre unter Bedingungen leben können, von denen sie in den 40er Jahren nur träumen konnte.
Quellen und zur Vertiefung:
Website der Weiße Rose Stiftung e.V.:
„Sophie Scholl“ auf der Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung